Dies Domini – Palmsonntag, Lesejahr C
Für manch einen Zeitgenossen scheint der Krieg in der Ukraine eine Art Gesellschaftsspiel zu sein. In Talkshows, den sozialen Medien und an der Wursttheke werden im sicheren Abstand zur echten Gefahr wohlmeinende Ratschläge und Tipps gegeben, wie der Krieg endlich zu beenden sei. Auch selbsternannte Philosophen faseln dann von einer Kapitulation, die das Sterben beenden soll. Allein das Massaker von Butscha aber zeigt, dass eine Kapitulation der Ukraine wohl nicht nur kein Leiden und Sterben verhindern würde; es würde den Aggressor wohl eher noch ermutigen, weitere Staaten anzugreifen. Man darf eben Friedfertigkeit nicht mit Wehrlosigkeit verwechseln.
Es mag sein, dass der semiphilosophische Kurzschluss auf der Doktrin des „Nie wieder“ beruht, die in der deutschen Gesellschaft nicht ohne Grund tief verwurzelt ist. Diese Doktrin führt nicht zuletzt zu der in diesen Tagen gerne geäußerten Auffassung, dass man mit der russischen Invasion in die Ukraine erstmals seit dem 2. Weltkrieg wieder mit einem Krieg auf europäischem Boden zu tun habe. Freilich redet, wer so spricht, reichlich geschichtsvergessen. Allein die jüngeren Generationen dürften sich doch lebendig an die Balkankriege in den 1990er Jahren mit den bestialischen Massakern – etwa dem von Srebrenica – erinnern; den älteren hingegen dürften auch noch der Bürgerkrieg in Griechenland Ende der 1940er Jahre oder der zypriotische Unabhängigkeitskrieg Ende der 1950er in Erinnerung sein. Abgesehen davon wird auch in Syrien weiter gebombt, in Mali durch die Hand von Soldaten Vergewaltigung, Leid und Tod über die Bevölkerung gebracht usw. usw. Das „Nie wieder“ ist ein frommer Wunsch, bei dem ohnehin unklar ist, worauf sich das „Nie wieder“ bezieht. So schreibt der jüdische Militärrabbiner Zsolt Balla in der Jüdischen Allgemeinen vom 7. April 2022:
„Rabbiner Gábor Lengyel, der Schoa-Überlebender ist, hat dies kürzlich auf den Punkt gebracht: ‚Wir deuten das ›Nie wieder‹ unterschiedlich: Viele Nichtjuden meinen ›Nie wieder Krieg‹, Juden hingegen meinen ›Nie wieder Vernichtung‹.‘ Begründet wird dies durch das Grundprinzip des Judentums, wonach der Schutz des Lebens über allem steht – auch über dem Frieden. Unsere wichtigste Aufgabe ist das Streben nach und der Erhalt von Frieden. Wenn dies allerdings nicht möglich ist, müssen wir uns verteidigen, auch mit dem Einsatz von Waffen.“ (Zsolt Balla, Realität unserer Zeit, Jüdische Allgemeine online, 7.4.2022 – Quelle: https://www.juedische-allgemeine.de/politik/realitaet-unserer-zeit/ [Stand: 9. April 2022])
Frieden entsteht eben nicht, wenn die Angegriffenen auf Verteidigung verzichten. Im Gegenteil: Die Geschichte lehrt immer wieder, dass der Aggressor weitermachen wird. Das Leben ist eben kein Gesellschaftsspiel, bei dem die Figuren nach einer Niederlage frisch und neu auf das Feld gestellt werden können und ein neues Leben erhalten. Jede Leben, das im Krieg genommen wird, ist unwiederbringlich verloren. Die Bücher der Toden sind ein für allemal zugeschlagen. Sie werden keine Musik mehr hören, ihre Kinder und Kindeskinder nicht heranwachsen sehen, den Wind nicht mehr spüren und sich an der Welt erfreuen können. Ahnen das die Stammtischprediger und Pseudophilosophen? Sind sie in der Lage, den notwendigen Schritt weiterzudenken? Sind sie bereit, für das Leben der Anderen auch nur eine Winzigkeit der eigenen Befindlichkeit aufzuopfern? Oder gehen die eigene Besitzstandwahrung und der eigene Wohlstand vor dem Leben der Anderen? So wird kein Friede möglich werden … allein die Namen der wehrlos Gestorbenen wird die, die sich nicht stören lassen wollen, anklagen.
Der von Russland entfesselte Krieg in der Ukraine zeigt, wie fragil die Firnis ist, auf der sich das Leben abspielt. Was sind schon die Menschenrechte, was gilt die Genfer Flüchtlingskonvention, was die Haager Landkriegsordnung – all die Rufe nach einem Recht in dem, was per Definition dem Lebensrecht entgegensteht, dem Krieg, muten naiv an. Kriege sind eben keine Gesellschaftsspiele. Sie sind Realitäten auch unserer Zeit. Mit dem Krieg in der Ukraine kommt sie uns ungewohnt nahe. Abwesend ist der Krieg in der Welt aber wohl nie gewesen. Kann man so Ostern feiern?
Die Ukraine – und nicht nur sie – erlebt in diesen Wochen einen sehr, sehr langen Karfreitag. Pilatus ließ den Mann aus Nazareth kreuzigen – und das, obschon er nach dem Zeugnis der Evangelien keine Schuld an ihm fand. Auch Lukas, dessen Passion am Palmsonntag des Lesejahres C verkündet wird, weiß davon zu berichten:
Pilatus rief die Hohepriester und die anderen führenden Männer und das Volk zusammen und sagte zu ihnen: Ihr habt mir diesen Menschen hergebracht und behauptet, er wiegle das Volk auf. Und siehe, ich selbst habe ihn in eurer Gegenwart verhört und habe an diesem Menschen die Schuld, wegen der ihr ihn anklagt, nicht gefunden, auch Herodes nicht, denn er hat ihn zu uns zurückgeschickt. Ihr seht also: Er hat nichts getan, worauf die Todesstrafe steht. Lukas 22,13-15
Trotzdem lässt er den, den er für unschuldig hält, foltern und auspeitschen, bevor er ihn freilassen möchten. Was für eine Perfidie! Trotz fehlender Schuld wird der Unschuldige bestraft – für was? Für die eigenen Interessen, denn Pilatus möchte offenkundig Unannehmlichkeiten und Scherereien vermeiden. Die eigene Befindlichkeit lässt das Leben des Anderen klein erscheinen. Schlussendlich wird er dem Druck der Aggressoren nachgeben, vor denen, die ihre Interessen in Frage gestellt sehen, kapitulieren und Jesus dem Tod am Kreuz ausliefern – ein klassischer Justizmord mit vielen Vätern, für den letztlich aber eben Pilatus die Verantwortung trägt. Er hätte anders handeln können – wenn da nicht diese befürchteten Scherereien gewesen wären … Dieser Zwiespalt zwischen dem, was Recht ist und um der Gerechtigkeit willen geboten gewesen wäre, und dem, was dem eigenen Befinden und Wohlergehen dienlich erscheint, wird immer wieder schnell geschlossen. Das eigene Hemd ist einem einfach näher als das Gewand der Anderen …
Aber auch Jesus selbst muss diesen Zwiespalt empfunden haben. Nach dem Abendmahl, noch am Tisch liegen, spricht er zu den Seinen über die bevorstehende Stunde der Not und empfiehlt:
Jetzt aber soll der, der einen Geldbeutel hat, ihn mitnehmen und ebenso die Tasche. Wer dies nicht hat, soll seinen Mantel verkaufen und sich ein Schwert kaufen. Lukas 22,36
Früher hatte er sie ohne all dies gesendet, um je zu zweit die frohe Botschaft in die Dörfer Galiläas und später Judäas zu tragen. Jetzt aber spitzt sich ein Konflikt zu. Die Zeit der scheinbaren Besitzlosigkeit, die potentielle Angreifer und Straßenräuber fernhalten sollte, ist vorbei. Jetzt gilt es, wehrhaft zu werden – sogar ein Schwert soll man kaufen …
Die Jünger sind behände dabei. Schwerter haben sie doch längst zur Hand:
Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter. Lukas 22,38b
Merkwürdigerweise aber weist der, der eben noch empfohlen hatte, ein Schwert zu kaufen, die Kampfbereitschaft zurück:
Genug davon! Lukas 22,38d
Das ist der Zwiespalt Jesu: Er sieht die Stunde der Not kommen und ruft zur Wehrhaftigkeit auf. Die offenkundig längst vorhandene Kampfbereitschaft der Jünger aber scheint ihn zu erschrecken. Sie scheinen das Reich Gottes mit Gewalt aufbauen zu wollen. Genau das aber widerspricht doch dem Friedensideal des Mannes aus Nazareth. Ist das nicht genau der Zwiespalt, in dem die Welt angesichts der Kriege immer wieder steckt?
Wehrhaftigkeit ist nicht Kampfbereitschaft und Kampfbereitschaft spricht nicht für Friedfertigkeit. Friedfertigkeit aber setzt unter Umständen Wehrhaftigkeit voraus. Das sind kleine, feine Nuancen, die auch in der Lukaspassion aufscheinen. Hinzu kommt, dass der, der hier in der Not steht, eine Entscheidung für sich fällen wird. Er wird letzten Ende auf jede Gewalt verzichten und sein Leben hingeben. Diese Entscheidung aber kann ihm niemand abnehmen. Jemandem hingegen zu empfehlen, er möge kapitulieren, damit das eigene – das des Empfehlenden – nicht weiter belästigt wird, ist mindestens zynisch. Das ist der Unterschied: Das eigene Leben für andere hinzugeben, kann ein hohes Gut sein. Das Leben anderer hinzugeben für die eigenen Ziele ist eine Verbrechen. Den Zwiespalt kennt Jesus – und seine Haltung ist klar. Er gibt sein Leben – und doch spricht er den Seinen zu, wehrhaft zu sein. Im Zwiespalt nämlich steht nichts Geringeres als das Leben selbst. Mit dem Leben anderer aber spielt man nicht. Der Karfreitag wird sonst nie enden …
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Ein Kommentar, argumentativ, wie immer, gut belegt. Ich bin dankbar für diese Überlegungen, die zu einem aktuellen Thema eine deutliche Stellungnahme bezieht mit entsprechenden Stellen des NT unterlegt.